Keine Verbindung von Festsetzungs- und Billigkeitsverfahren bei implizit im Einspruch enthaltenem Billigkeitsantrag
BFH Urteil vom 11. Dezember 2024 (XI R 35/21)
Der Bundesfinanzhof (BFH) hat mit Urteil vom 11. Dezember 2024 (XI R 35/21) entschieden, dass ein durch Auslegung im Einspruchsverfahren erkennbar gewordener Billigkeitsantrag nicht mit dem vorhergehenden Festsetzungsverfahren verbunden werden kann, wenn in diesem keine Billigkeitsgründe geltend gemacht wurden. Dies hat Auswirkungen auf die Überprüfungsmöglichkeiten im Einspruchsverfahren und den Anspruch des Steuerpflichtigen auf eine umfassende Prüfung seines Anliegens.
Der Fall
Ein Einzelunternehmer beantragte im Jahr 2015 die Änderung der Umsatzsteuerfestsetzung für das Jahr 2005, nachdem ihm das Regierungspräsidium eine Bescheinigung über die Steuerbefreiung bestimmter Umsätze erteilt hatte, die rückwirkend ab 1996 galt. Das Finanzamt lehnte die Änderung des Steuerbescheids aufgrund von Verjährung ab. Im Einspruchsverfahren berief sich der Unternehmer auf die Vertrauensschutzregelung eines BMF-Schreibens, woraus sich durch Auslegung ein Billigkeitsantrag ableiten ließ. Das Finanzamt lehnte in der Einspruchsentscheidung auch diesen impliziten Billigkeitsantrag ab. Das Finanzgericht (FG) gab der Klage statt und sah das Ermessen des Finanzamts als fehlerhaft an, da es den Billigkeitsantrag nicht berücksichtigt hatte.
Die Entscheidung des BFH
Ein im Einspruch implizit enthaltener Billigkeitsantrag darf nicht zusammen mit dem Einspruch abgelehnt werden. Das Finanzamt muss über einen solchen Antrag durch einen gesonderten Verwaltungsakt entscheiden.
Die Begründung:
- Grenzen der Überprüfung im Einspruchsverfahren: Die Überprüfung im Einspruchsverfahren ist auf den Gegenstand des angefochtenen Verwaltungsakts beschränkt. Da der ursprüngliche Antrag des Unternehmers nur die Änderung des Steuerbescheids im Festsetzungsverfahren betraf und keine ausdrücklichen Billigkeitsgründe enthielt, durfte das Finanzamt im Einspruchsverfahren nicht über den erst im Einspruchsverfahren erkennbar gewordenen Billigkeitsantrag entscheiden.
- Verlust einer Prüfungsebene: Würde das Finanzamt im Einspruchsverfahren erstmalig über einen solchen Billigkeitsantrag entscheiden, würde dem Steuerpflichtigen eine Prüfungsebene genommen. Der Steuerpflichtige hat einen Anspruch darauf, dass sein Billigkeitsantrag zunächst vom Finanzamt geprüft und anschließend im Einspruchs- und Klageverfahren gerichtlich überprüft werden kann.
- Keine Verbindung von Verfahren: Stellt der Steuerpflichtige seinen Billigkeitsantrag nicht explizit im Festsetzungsverfahren, sondern erst implizit im Einspruchsverfahren, können Festsetzungs- und Billigkeitsverfahren nicht miteinander verbunden werden. Eine Verbindung ist nur möglich, wenn der Billigkeitsantrag bereits im Festsetzungsverfahren gestellt wurde.
Konsequenzen für die Praxis
- Rechtzeitiges und explizites Stellen von Billigkeitsanträgen: Steuerpflichtige sollten Billigkeitsanträge möglichst frühzeitig und explizit, idealerweise bereits im Festsetzungsverfahren, stellen. Ein erst im Einspruchsverfahren implizit erkennbar werdender Antrag kann dazu führen, dass er nicht berücksichtigt wird.
- Sorgfältige Prüfung durch das Finanzamt: Das Finanzamt muss einen implizit im Einspruch gestellten Billigkeitsantrag durch einen separaten Verwaltungsakt bescheiden. Es darf diesen nicht im Einspruchsbescheid selbst behandeln, da dies dem Steuerpflichtigen eine Instanz rauben würde
- Gewährleistung des Rechtsschutzes: Das Urteil stärkt den Rechtsschutz des Steuerpflichtigen, indem es sicherstellt, dass Billigkeitsanträge umfassend geprüft werden und nicht im Einspruchsverfahren "untergehen".
Fazit
Das BFH-Urteil hat zur Folge, dass implizite Billigkeitsanträge im Einspruch nicht untergehen. Das Finanzamt ist verpflichtet, auch solche Anträge in einem separaten Verfahren zu prüfen und zu bescheiden. Das Urteil stärkt somit den Rechtsschutz des Steuerpflichtigen und sorgt für mehr Klarheit im Verfahrensablauf.